Vom Material her gedacht

Textile Arbeiten von Sofie Dawo

26. April 2022 – 4. Juni 2022

Eröffnung

26. April 2022 - 19:00 Uhr

Einführung

Dr. Friedrich Meschede, Kunsthistoriker, Berlin + + + Einführung und Rede (dt.) weiter unten

Vom Material her gedacht: Arbeiten von Sofie Dawo
Einführung und Rede Dr. Friedrich Meschede, siehe GalerieInfo 01/2022                 

Sie zählt zu den wichtigen Künstlerinnen einer konkreten (Textil-) Kunst der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: In der Saarländischen Galerie in Berlin kann man ab dem 26. April das Werk von Sofie Dawo (1926-2010), das lange Zeit unbeachtet blieb, wieder oder neu entdecken.

Sofie Dawo hat seit den 1960er Jahren entschieden und mit Mut zum Experiment ihre eigene Position innerhalb der Textilkunst entwickelt. Ausgehend von den Prinzipien der Bauhaus-Grundlehre, die die ästhetische Produktion auf ihre zentralen Bildelemente hin untersucht, ist Dawos Abkehr von traditionellen Gestaltungsformen der „Webkunst“ radikal. Ihre Arbeiten entstehen nicht mehr als Umsetzung einer in einem anderen Medium konzipierten Vorlage, allein das Material mit seinen Eigenschaften bestimmt die Gestaltung. Sofie Dawo nennt es die „Selbstzeichnung“ des Materials, ihr Konzept hat sie so beschrieben: „Meine Arbeiten entstehen vorwiegend aus den gestalterischen Möglichkeiten textiler und anderer Materialien, die auf ihre neuen Ausdrucksmöglichkeiten hin untersucht und eingesetzt werden. Meist entstehen Entwurf und Komposition der Behänge aus den verschiedenen Materialien selbst und aus der Kenntnis der Technik des Webens.“ Zeitgenössische Beurteilungen haben darin zurecht eine Nähe zu den Gestaltungsprinzipien von ZERO und Informel gesehen.

Mit der Konzentration einer Forscherin untersucht Sofie Dawo in ihren Arbeiten die Wesenseigenschaften ihrer Materialien, häufig in Serien. Auch der Einsatz neuer Materialien wie Metall oder Kunststoff wird erprobt. Sie unterstützen Dawos Versuch, die Zweidimensionalität der gewebten Fläche zu verlassen: „… früh bin ich (…) in den Raum hineingegangen“ (Dawo). Wolle wird gekocht, um eine größere Festigkeit für die dreidimensionale Gestaltung zu gewinnen, Fäden unterschiedlicher Länge werden gereiht und geschichtet bis sich aus der Anhäufung ein reliefartiges Objekt bildet.

Dawo sucht und belässt die Unregelmäßigkeiten von Zerstörung: Fäden werden gerissen, Gewebe in ihrer Regelmäßigkeit durchbrochen. Ein Knoten oder eine Schlinge können in gleichmäßiger Reihung oder Variationen zu tragenden Bildelementen werden, denn: Sie sind vom Material aus gedacht.

Ausstellung in Kooperation mit Jochum Rodgers, Berlin

Biografie / Biography

1926 geboren in St. Ingbert/Saar 1948-52 Schule für Kunst und Handwerk, Saarbrücken 1952-58 Entwerferin in der Textilindustrie 1958-71 Leiterin der Klasse für Weben und Stoffdruck der Staat­lichen Werkkunstschule Saarbrücken 1971-89 Leiterin des Fachbereichs Design, Fachrichtung Textildesign der Fachhochschule des Saarlandes, Saarbrücken 1975 Ernennung zur Professorin 1989-92 Hochschullehrerin an der Hochschule der Bildenden Künste Saar, Saarbrücken 2010 gestorben / 1926 Born in St. Ingbert/Saar 1948-52 School of Arts and Crafts, Saarbrücken 1952-58 Designer in the textile industry 1958-71 Head of the class for weaving and fabric printing at the Staatliche Werkkunstschule Saarbrücken 1971-89 Head of the design department, specializing in textile design at the Schule für Kunst und Handwerk, Saarbrücken 1975 Appointed professor 1989-92 University lecturer at the Hochschule der Bildenden Künste Saar, Saarbrücken 2010 Died

Einzelausstellungen (Auswahl) / Solo Shows (selection) 1996 Orangerie Blieskastel  2006 „Sofie Dawo, Dorothea Zech – Zwei Wege textilen Gestaltens“, Saarländisches Künstlerhaus, Saarbrücken 2011 Sofie Dawo – Rot ist nicht meine Farbe“, Stadtmuseum St.. Wendel

Ausstellungsbeteiligungen (Auswahl) / Group Shows (selection) 1966 „Textile Kostbarkeiten – De Fil en Aiguille“, Wanderausstellung durch Frankreich, Kanada, USA und Japan (K) 1967 „Artisanat d’Art allemand“ in Lyon, Nizza, Bordeaux, Lissabon, Porto  1967 Biennale Internationale de la Tapisserie, Musée Cantonale des Beaux Arts, Lausanne/CH  1968 „Bildteppiche der Gegenwart“, Hannover 1969 „Experiencians Artistico-Textiles“, Museo Espanol de Arte Contemporande, Madrid/ES  1971 „Tapisserie und Textile Objekte“, Karl-Ernst-Osthaus-Museum, Hagen  1975 „Tapisserie in Deutschland nach 1945“, Ludwigshafen am Rhein 1978 „Zeitgenössisches deutsches und britisches Kunsthandwerk“, Museum für Kunsthandwerk Frankfurt am Main und City Museums and Art Gallery Birmingham/GB  1981 „Zeitgenössisches Deutsches und Niederländisches Kunsthandwerk“, Triennale Frankfurt-Arnheim 1982, 1985, 1987/88, 1990 Biennale der Textilkunst, Deutsches Textilmuseum, Krefel 1990 „Europäisches Kunsthandwerk“, Palais du Pape, Avignon/FR 1994 „Textile Bilder“, Künstlerhaus, Saarbrücken 1995 Zentralverband des Deutschen Handwerks, Brüssel 2013 TEXTILES: OPEN LETTER Abstraktionen, Textilien, Kunst, Museum Abteiberg, Mönchengladbach 2014 „To Open Eyes: Kunst und Textil vom Bauhaus bis heute“, Kunsthalle Bielefeld 2020 „Partikel: Arbeiten von Künstlerinnen der 1950er und -60er Jahre. Kunstsammlung des Saarlandes“, KuBa Kulturzentrum am Eurobahnhof, Saarbrücken

(EN)

Following the Thread: The Work of Sofie Dawo

Sofie Dawo (1926–2010) ranks among the most important artists in the field of concrete fibre art in the second half of the twentieth century. From April 26, in the Saarländische Galerie in Berlin, you can (re)discover her long-neglected work.

Daringly experimental, Sofie Dawo resolutely forged a style of her own within fibre art, from the 1960s on. Drawing on the basic principles of the Bauhaus, which posit that aesthetic production be examined in terms of its central visual elements, she radically rejected the traditional approach to the art of weaving at a loom. Thus, instead of executing a design preconceived in a different medium, she literally followed the thread of her selected material’s inherent properties, allowing this to determine the process or, as she put it, “to draw itself”. Summing up her concept, she noted: “My works ensue from the exploration and application of the expressive range and artistic potential of textiles and other materials. Usually, the design and composition of the wall hangings result from the various materials themselves, as well as from knowledge of the technique of weaving”. Contemporary critics have rightly seen in this a proximity to the design principles of ZERO and Informel.

This highly focused research into her materials’ essential characteristics was often pursued in serial works. Sofie Dawo also investigated the use of novel materials, such as metal or plastic, which helped her move beyond the typically flat woven surface. “I entered the third dimension early on”, she noted, like a true space explorer. Boiling wool made it resistant enough for 3D structures of this sort, while stringing and layering threads of different lengths led to deep-pile or shaggy reliefs.

Dawo consciously sought and showed the irregularities of creative destruction, tearing threads or disrupting the regular weave of a fabric; and the serial or random knot or loop was likewise a signifier in her work: a message from the material.

Exhibition in cooperation with Jochum Rodgers, Berlin

Auszüge aus der Einführungsrede von Friedrich Meschede

Die 1926 in St. Ingbert geborene Sofie Dawo studierte von 1948 bis 1951 an der neugegründeten „Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk in Saarbrücken“ u.a. bei Boris Kleint, aber auch in der Webklasse dieser Schule, an der sie mit Datum vom 14. Juli 1952 ihr Abschlusszeugnis erhält. Boris Kleint (1903- 96) lehrte an der Schule die Grundlehre, die am Vorkurs von Johannes Itten am Bauhaus orientiert war.

Nach Abschluss des Studiums arbeitet Sofie Dawo bis 1958 als Entwerferin in der Industrie, Textilien sind vor allem im sakralen Dienst nachgefragt. 1958 kehrt Sofie Dawo an ihre ehemalige Schule zurück und wird Leiterin der Klasse für Weben und Stoffdruck an der nun Staatlichen Werkkunstschule Saarbrücken, eine Position, die sie lange inne haben wird.

Dawos Lehrer, Boris Kleint, hatte 1957 die >neue gruppe saar< ins Leben gerufen, eine Interessengemeinschaft junger Künstler aus dem Saarland, die sich deutlich von den Kunstidealen der überwundenen Epoche der Nazi-Herrschaft absetzen wollte. Einerseits war das Ideal eine konkret-konstruktive Kunst in der Tradition des Bauhauses, bei Kleint selbst vor allem von Wassily Kandinsky beeinflusst. Anderseits geht der Blick nach Frankreich und dem Informel, zumal das Saarland nach dem Krieg 10 Jahre unter französischer Verwaltung gestanden hatte. So wird dieser Einfluss eine wichtige Quelle neuer Abstraktion.

Durch die Grundlehre von Boris Kleint hatte Sofie Dawo die Wertigkeit und Möglichkeit eines Materials kennengelernt und die Gestaltbarkeit durch bestimmte Techniken, die ein Material herausfordert, wie auch umgekehrt, dass ein Material neue Techniken erschließt.

Bei Sofie Dawo kommt hier dem Ausdrucksmittel der Zeichnung, namentlich der Tuschzeichnung, eine wesentliche Rolle zu. Grundsätzlich und etwas vereinfacht möchte ich sagen, dass das Informel kein breites Farbspektrum aufweist, und wenn Farbe ins Spiel kommt, ist es die eine Farbe, die dominiert, um eben dem gestischen Duktus alle Energie der Gestaltung zuzusprechen. Die Malgeste steht im Vordergrund, nicht die Farbe.

Hier ist es sinnvoll, in dieser Ausstellung zunächst die Zeichnungen zu betrachten, die ein wunderbares Phänomen aufweisen: Sofie Dawo setzt mit einem Pinsel Kreisformen in serieller Weise auf ein Blatt Papier, die Form zeigt sich zu Beginn am unteren Bildrand in gesättigter Tusche, im Verlauf bzw. im Verstreichen der Tusche verliert sich diese Intensität Reihe für Reihe. Als der Bildgrund „gefüllt“ ist, erscheinen einzelne Pinselhaare und machen sichtbar, dass die Sättigung von Farbe im Prozess abgenommen hat, die Zeichnungsgeste wird weitergeführt, bis der Vorrat an Farbe erschöpft ist und auf dem Papiergrund nur noch Spuren der Anfänge dieser Zeichnung erkennbar bleiben.

Mit anderen Worten, der Betrachter kann am Verlauf jeder Kreisform den gestischen Prozess des Tuschauftrags nachvollziehen und nicht nur das, der Sättigungsgrad des Pinsels bestimmt die Dichte und Fülle der Kreisform, sie ist abgeschlossen, wenn das Material ausgeschöpft ist.

Das heißt, das Material bestimmt das Erscheinungsbild der Form. Dieses ist nun ein ganz wesentlicher Aspekt, um auf das Phänomen der textilen Arbeiten von Sofie Dawo zu sprechen zu kommen: Die Werke sind vom Material bestimmt, die Technik wird eingesetzt und ausgeschöpft, um das Resultat materialgerecht zu erschaffen. Das Informelle der Bildsprache wie auch, materialbedingt, das Konkrete des textilen Stoffes wird dreidimensional abstrakt und für sich bildwürdig. Das ist das Neue und Erstmalige bei Sofie Dawo und ihren textilen Arbeiten.

Ich beschreibe hier ein Diptychon, zwei gleichgroße Leinwände, die eine in schwarz, die andere in Naturfarben gehalten. Alles ist auf Symmetrie angelegt. Wenn wir uns nun aber auf die herausgezupften Freistellen im Bild konzentrieren, müssen wir feststellen, dass sie sich nicht in der symmetrischen Mitte der Formate befinden, sie sind leicht aus dem Zentrum heraus nach rechts verschoben und bilden damit einen dynamischen Rhythmus dieser Komposition, eine offene Sehbewegung, die der Statik der Symmetrie und des Schwarz-Weiß-Kontrastes entgegenwirkt.

Oder nehmen wir das hier fast frei im Raum hängende Textilobjekte. Im Unterschied zum eben besprochenen Werk hat es kein Vorne und kein Hinten, beide Seiten sind gleichwertig gearbeitet und man könnte es von zwei Seiten betrachten.

Dann will ich auf die Arbeit verweisen, die im anderen Raum zu sehen ist, einst als Auftragsarbeit für den Saarländischen Landtag entstanden ist und nun nach langen Jahren der Einlagerung für diese Ausstellung von Andrea Weber wiederentdeckt worden ist.

Die Prinzipien des Informel sind auf faszinierende Weise in ein textiles Relief übertragen.

Ich hatte zu Beginn die Webklasse des Bauhauses erwähnt, nicht ohne Grund wie Sie, verehrte Besucher sich denken können. Das Bauhaus wollte Ästhetik in alle funktionalen Lebensbereiche einbringen, am Beispiel der textilen Kunst heißt dass, ein Gewebe war zugleich ein Wandbehang, zwar ein Bild, aber immer auch gebunden an eine Funktion als Decke.

Anni Albers hat später in New Haven zusammen mit Philip Johnson an mustergültigen textilen Vorhängen und Bezügen gearbeitet. Nur in ihren sogenannten „religiösen“ Werken hat sie sich davon weitestgehend gelöst, aber dann wiederum darin die spirituelle Funktion darstellen wollen. Verkürzt gesagt, die Bauhauslerinnen konnten ihre textile Gestaltung nicht zweckfrei begreifen.

Genau deshalb kam Sofie Dawo eine so immense Bedeutung zu, weil sie es war, die nach dem Zweiten Weltkrieg diesen Schritt gegangen ist, textile Kunst als solche, zweckfrei, als Ausdrucksmedium rein aus dem Material heraus zu begreifen.

Ich möchte noch auf zwei zeitgenössische Künstlerinnen hinweisen, die mit Textilem bzw. Stofffäden arbeiten. Da ist zum einen Sheila Higgs. Sie fand mit Anni Albers auf den gemeinsamen Reisen nach Peru zum Weben und textiler Gestaltung. Dann die soeben auf der Biennale von Venedig für ihr Lebenswerk geehrte Cecilia Vicuña. Sie entstammt in Chile der gleichen Tradition indigener Gestaltungsprozesse, in denen, wie selbstverständlich, textile Gestaltung eine große Bedeutung einnimmt. Solche Einflüsse haben sich europäische Künstler für ihre abstrakten Bilder errungen, um, mit offenen Augen, die Abstraktion indigener Kunst für sich zu entdecken. Anni und Josef Albers allen voran. Hier könnte man sagen, das Ideal jener Jahre und ihrer Lehre von Abstraktion war eine weltumspannende Formensprache geometrischer Ordnung.

Die Abstraktion einer Sofie Dawo war irgendwie das Gegenteil davon, die Setzung einer introspektiven Abstraktion, die keinem Narrativ, eben auch nicht einem unverstanden indigenen Muster folgen wollte, sondern nur den Eigenarten und Eigenschaften des Materials, für das sie sich entschieden hat. Das ist es, was sie auszeichnet. Sofie Dawo war ganz bei sich selbst.

Lassen Sie mich zum Abschluss eine kleine Begebenheit zitieren, die sich nach der Pressevorbesichtigung 2014 in Bielefeld ergeben hatte. In vielen anderen europäischen Ländern, außer in Deutschland, gibt es eine andere Aufmerksamkeit für Kunst in ihrer breiten, auch kunstgewerblichen Ausgestaltung. So kam es, dass zwei Journalistinnen aus den Niederlanden, die ein Magazin für textile Kunst herausgeben, auf mich zukamen und über meine Ausstellung den Stab brachen, indem sie sagten, ich hätte in Bielefeld nur „Künstler gezeigt, die mit Textil arbeiten, aber keine Textilkünstler; diese würden sie vermissen“. Das war natürlich als Vorwurf gemeint, traf auf den Punkt exakt im Zentrum.

Die Kunst textiler Gestaltung ist eine Gratwanderung, Künstler arbeiten mit textilen Materialien, ich nenne die Quilts von Tracy Emin, die auch in meiner Ausstellung waren, aber Tracy Emin würde sich nie als Textilkünstlerin verstehen.

Ich hätte gerne erfahren, wie Sofie Dawo sich gesehen hätte, sie verstarb am 12. August 2010 im Alter von 84 Jahren und konnte eine erste große Ausstellung ihres Werkes selbst nicht mehr erleben. Ich weiß nicht, ob jemand sie nach dieser feinen Unterscheidung gefragt hätte. Ich weiß aber mit Bestimmtheit, dass Sofie Dawo eine Künstlerin war, die im Textilen ihren Werkstoff gefunden hatte, der, wie diese Ausstellung zeigt und beweist, keiner Rechtfertigung bedarf.