Sigrún Ólafsdóttir
GEGENWÄRTIGE AUSDEHNUNG
5. November 2013 – 12. Januar 2014
—
Eröffnung
5. November 2013 - 19:00 Uhr
Einführung
Cornelieke Lagerwaard, Museum St. Wendel
—
Sigrún Ólafsdóttir
+++ Text der Einführung von Cornelieke Lagerwaard, Museum St. Wendel, weiter unten +++
Bewegung und das dynamische Gleichgewicht entgegen gesetzter Kräfte sind zentrale Themen in Sigrún Ólafsdóttirs Plastiken. Sie stehen am Schnittpunkt von Stabilität, Labilität und Fragilität, quasi am Übergang von einer Position in die andere.
In der Berliner Ausstellung werden neben kleinformatigen, oftmals als Auflagenlagenobjekte definierten Plastiken und Wandarbeiten auch zwei Großplastiken zu sehen sein.
Unverkennbar und überzeugend ist Sigrún Ólafsdóttirs Hinwendung zu einem einfachen Bildvokabular, das seine Herkunft aus dem Konstruktivismus und der nachminimalistischen Plastik nicht leugnet. Bildbestimmendes Element ist immer wieder die Linie – ob gerade oder gebogen – sowie die einfache Flächenform von Kreis, Kreissegment, Kugel, Rhombus und Rechteck.
Auch wenn sie mitunter komplexe, mit Spannung versehene räumliche Dimensionen definieren, wirken Ólafsdóttirs Plastiken niemals kompliziert, überladen bzw. artifiziell. Ein wesentlicher Charakterzug liegt in der Leichtigkeit ihrer Arbeiten. Selbst als großdimensionierte Plastiken wirken sie filigran, nahezu elegant; ist doch die – dreidimensionale – Linie in der Regel oftmals das werkkonstituierende Movens. So findet die Künstlerin von der Linie über die Fläche zum Raum, vom Boden, von der Wand hoch in den Himmel.
Dabei sind die Objekte und Plastiken immer fein ausbalanciert. Sie stehen am Schnittpunkt von Stabilität und Fragilität, quasi am Übergang von einer Position in die andere. Sie wirken wie Momentaufnahmen, wie Stills aus einem Film, aus einem endlosen Spiel hin- und herpendelnder Bewegungen.
Klar und einfach sind auch die Materialen, die Sigrun Ólafsdóttir souverän verwendet: Holz, Stahl, Aluminium, Gips, Blei oder Latex. In der Regel dominiert ein Werkstoff das jeweilige Objekt, er verleiht ihm seine spezifische visuelle Substanz und Überzeugungskraft. (Text: Richard Gassen)
Sigrún Ólafsdóttir, *1963 in ReykjavÃk, Island, lebt und arbeitet in Saarbrücken.
1986-1994 Studium der Bildhauerei an der Myndlista og HandÃðaskóli Ãslands, ReykjavÃk und an der Hochschule der Bildenden Künste Saar, u.a. bei Wolfgang Nestler
Stipendiatin der Pollock-Krasner Foundation (2006)
Zahlreiche Einzelausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen in Deutschland, Frankreich Luxemburg, Island, Schweden und Finnland. www.sigrun-olafsdottir.de
Einführung von Cornelieke Lagerwaard, Museum St. Wendel
Sehr geehrte Damen und Herren,
vor langer Zeit – irgendwann Anfang der 1990-er Jahre – besuchte ich eine Ausstellung in Völklingen, im Saarland, in der sogenannten Handwerkergasse. Hier befand sich die offene Werkstatt der Hochschule der bildenden Künste Saar, und es waren Arbeiten von Studenten des Bildhauers Wolfgang Nestler präsentiert.
In dieser Ausstellung sah ich zum ersten Mal eine Arbeit der Künstlerin Sigrún Ólafsdóttir. Ich habe das kleine Objekt später nie mehr gesehen, es kann also durchaus sein, dass es in meiner Erinnerung eine ganz andere Qualität angenommen hat. Trotzdem möchte ich meine Rede hier in Berlin mit meiner Geschichte bzgl. dieses kleinen Objektes beginnen.
In meiner Erinnerung handelt es sich um eine langgezogene, ovale Form aus hellem Holz, das in einem schlichten Behälter liegt, ebenfalls aus Holz. An ein Weberschiffchen musste ich denken, und wollte es unbedingt berühren. Ich weiß nicht mehr, ob das kleine Objekt in einer Vitrine lag; an eine tatsächliche Berührung kann ich mich nicht erinnern.
Als ich mich vor einigen Tagen hinsetzte, um diese Einführung vorzubereiten, kam mir sofort diese eiförmige Schiffchen in den Sinn, obwohl ich nicht mehr weiß, wie es ganz genau ausgesehen hat, aber ich empfand diesen Gedanken als schlüssig und richtig. In diesem Ei war sozusagen alles schon drin, eine Keimzelle, ein Anfang.
Die Entwicklung der Künstlerin ist eine ganz konsequente, wenn auch nicht immer in einer geraden Linie verlaufen. Wie im richtigen Leben sich der Lauf der Dinge manchmal in unvorhersehbaren Richtungen entwickelt, sind auch in ihrer Thematik unterschiedliche, räumliche und »Gegenwärtige Ausdehnungen« festzustellen, um mit dem Titel dieser Ausstellung zu sprechen.
Sigrún Ólafsdóttir stammt aus Island, und ist in dieser anderen Kultur groß geworden. Mit Hilfe der isländischen Sprache hat sie die Welt benennen lernen, erfassen lernen, sich selbst kennengelernt, eine Identität gegeben. Sprache hängt mit unserer Selbstverständlichkeit zusammen, und dies erklärt, weshalb die Kunst der einzelnen Länder und Völker sich voneinander unterscheidet, wenn auch diese Unterschiede manchmal ganz klein sind. Eine neue Sprache bedeutet eine andere Welt. Und da gab es dann irgendwann das eiförmige Weberschiffchen in seinem Kästchen. Die kleine Arbeit, irgendwie verheißungsvoll und sinnlich, haptisch verlockend, bildet aus meiner Sicht heute ein thematisches »Vorspiel« zu dem, was kommen sollte.
Wie man mit der Realität umgeht, hängt von vielen Faktoren ab, und dies gilt nicht nur für Künstler. Das kulturelle und soziale Umfeld, das Bildungsniveau, die Freunde, die Arbeit, die Zufälle oder vermeintlichen Zufälle, die Erfahrungen, auch die körperlichen Erfahrungen die man in seinem Leben macht, die Verluste, die man erleidet, die Verletzungen die man erfährt, das Glück, das einem manchmal zu Teil wird. Die Ausgeglichenheit, die man angesichts dieses Chaos anstrebt.
All dies fließt auch in die künstlerische Arbeit von Sigrún Ólafsdóttir ein.
In ihrer Arbeit ging es lange Zeit vor allem um diese Ausgeglichenheit, sprich: um den Moment des Gleichgewichts zwischen den immer hin-und-her-pendelnden Gegensätzen. Es ging um das Verhältnis sich gegenseitig bestimmender und bedingender Kräfte oder Urprinzipien, wie z. B. männlich und weiblich, hart und weich, nass und trocken, Krieg und Frieden, Ferne und Nähe. Und um diese Gegensätze geht es eigentlich immer noch, aber die Thematik hat sich vertieft, dadurch auch das Erscheinungsbild der neuen Arbeiten. Aber darüber später.
Die »Berührungen«, ein Beispiel in dieser Ausstellung, tanzen fast in dem Raum. Die Skulpturen aus dieser Arbeitsgruppe, sowie die aus der Gruppe der »Windungen« – das sind schwebende, in den Raum emporsteigende oder seitwärts greifende Bänder, die sich der Schwerkraft zu entziehen scheinen, in dieser Ausstellung das »Ritual« – also die Skulpturen aus diesen beiden Arbeitsgruppen, kommen leichtfüßig daher. Die Formgebung ist minimal, die klare Linie enthält keine Schnörkel, die Choreographie ist sorgfältig ausbalanciert. Poetische, klare, eher vom Intellekt, vom Kopf, gesteuerte Analysen zu den Prozessen, die ein Gleichgewicht bestimmen.
Die Schwerkraft ist die gegenseitige Anziehung von Massen. Auf der Erde bewirkt sie, dass alle Körper nach unten fallen, sofern sie nicht durch andere Kräfte daran gehindert werden. In den beiden oben genannten Arbeitsgruppen kontert die Künstlerin diese Wirkung, indem sie genau berechnete Gegengewichte einsetzt, die trotzdem, im Falle der »Berührungen«, eine Bewegung erlauben, und das ist das Besondere daran. Wir können, als Betrachter, die Arbeiten zwar in Bewegung setzen, das Gleichgewicht ein bisschen ungleich machen, doch durch die Konstruktion pendelt es sich immer wieder ein.
Die »Windungen« sind in sich nicht beweglich, sondern nur, wenn sie vom Wind oder Zugluft bewegt werden, wenn sie, wie in dieser Ausstellung, an einer Decke hängen. Aber durch ihr luftiges Aussehen – die leeren Räume zwischen den Speichen bestimmen die Gestaltung mit – wirken sie, als ob sie schweben würden. Zu dieser Arbeitsgruppe gehört übrigens auch die von Sigrún Ólafsdóttir entworfene Brücke über die Saar, im Rahmen des Projekte »Stadtmitte am Fluss«, die aber nun, wegen fehlender Europagelder, leider wahrscheinlich nicht gebaut wird.
Die dritte Arbeitsgruppe, die der sogenannten Körbe, das sind die Stapelungen von Ringen oder später auch halben Kugeln, entwickelte sich als einzige schon vor längerer Zeit in Richtung Körperlichkeit, so möchte ich es hier mal ausdrücken. Aus den Stapelungen entwickelten sich nämlich die Füllhörner, die mit ihnen eine Weile parallel laufen. Diese wirken in meinen Augen schon fast wie Faustschläge auf einem Tisch, und sie wirken auch schon so im kleinen Format, wie Sie hier sehen. Diese Kraft manifestierte sich dann auch fast zeitgleich in einer bis heute fortdauernden Folge von großformatigen Tuschezeichnungen auf Kalkgrund. Im Nachhinein ist klar: hier bahnte sich wieder etwas Neues an.
Diese neue Dimension der Körperlichkeit kam trotzdem zögernd. Sie konnte erst dann entstehen, als die Voraussetzungen im realen Leben gegeben waren. Nicht jede Zeit eignet sich für Faustschläge auf dem Tisch. Aber plötzlich merkt man, dass diese nicht mehr nötig sind. Die Füllhörner brechen auf, einzelne Segmente stehen weg von der Konstruktion, man kann einen Blick ins Innere wagen.
Und irgendwann wird ihre Oberfläche mit Gummilatex übergossen. Hierbei entstehen überschüssige Latex-Hautlappen, die schlaff herunter hängen. Sigrún Ólafsdóttir experimentiert gesondert weiter mit der organischen Wirkung dieses Materials. Latex umschließt alles wie eine Haut. Die Hautstreifen verselbständigen sich. Die Künstlerin benutzt Latexstreifen wie dreidimensionale Pinselstriche im Raum. Dreidimensional, aber trotzdem fest verankert in der Wand. In diesem Bereich gibt e die filigranen »Gummitwists« und die mehr oder weniger ausladenden geschlossenen, ovalen »Ausdehnungen«. Beide sind durch ihre Wandbezogenheit sehr grafisch, und hängen unmittelbar mit den großformatigen Zeichnungen aus Tusche und Kalk zusammen.
Die Linienbänder der »Twists« sind an der Wand verknotet, lösen sich daraus und streben dann der Erde zu, und betonen so die Gesetze der Schwerkraft. Die »Ausdehnungen« hingegen stellen sich gegen diese Gesetze. Man bekommt den Eindruck, dass sie von der Wand weg bewegen wollen. Durch diese Bewegung, die von innen zu kommen scheint, wirken sie lebendig. Es handelt sich hier nicht mehr um Pinselstriche, die ihrer Erzeugerin in den Raum gemalt hat, sondern sie finden quasi als eigenständige Wesen einen stabilen Platz in unserer Welt.
Als ich ins Atelier kam, hingen die beiden größeren Ausdehnungen noch nicht, sondern sie lagen nebeneinander im Bett. Wie Sie auf der Einladungskarte sehen können, befindet sich im Atelier der Künstlerin eine Couch. Hier setzt sie sich hin, wenn sie Abstand gewinnen möchte. Es handelt sich aber um eine Schlafcouch, und an diesem Tag diente sie mit dieser Funktion als Lagerung der beiden »Ausdehnungen«. Sie bekamen durch diese ungewöhnliche Bettung etwas Menschliches. Die weite Ausdehnung hatte vor allem ein sehr einnehmendes Wesen, ihr Pendant hat sich dünne gemacht.
Quasi aus dem Bauch heraus ist eine weitere Werkgruppe entstanden. Sigrún Ólafsdóttir bezeichnet sie inoffiziell als »orientalische Madonnen«, weil die Arbeiten aussehen als wären sie orientalische Damen, die entweder ihre Schleier gerade anziehen, oder auch ausziehen. In dieser Ausstellung heißen die drei jeweils »Vorspiel«. Sie wirken sehr organisch, weniger vom Intellekt gesteuert, und das ist neu in der Arbeit der Künstlerin.
Mit ihrer Haut aus Gummilatex brodeln sie vor lauter Leben und erzeugen beim Betrachter durch ihr Äußeres widersprüchliche Emotionen: Irritation, ein Hauch von Erregung, Anziehung, oder vielleicht auch Abneigung. Sie wirken physisch sehr direkt, eine Direktheit, die keine Distanz zulässt. Sie fordern eine körperliche Annäherung. Ihre Haptik ist sehr stark. Durch ihre materielle Beschaffenheit wecken sie unmissverständlich sexuelle Assoziationen auf, wobei Sexualität hier hauptsächlich aufgefasst werden soll als ein zentrales Element gesellschaftlicher Verhältnisse. Das heißt, dass wir bei diesen Arbeiten die sexuelle Ebene nicht einfach nur als einen beschränkten Aspekt menschlicher Bedürfnisse sehen sollen.
Diese Arbeiten besitzen eine ungeheure Präsenz, fast, als wären sie lebendig. Sie hängen von der Decke runter, und es macht sie verletzlich, weil sie nichts dagegen tun können, da zu hängen. Sie sind machtlos. So thematisieren sie die nicht zu entkommenen Veränderlichkeit, auch den Tod vielleicht, aber vordergründlich diesen entscheidenden Grenzraum, wo der Tod nah ist und gleichzeitig das Leben intensiv erfahren wird. Es sind Skulpturen voller Kraft, Trägerinnen eines riesigen Potentials von ursprünglicher Energie. Sie beanspruchen alles zu erfassen, auch das Unfassbare und Unaussprechbare. Sie bilden, und so heißen sie ja auch, das »Vorspiel« zu dem gewaltigen »Luzifer«, dem Held dieser Ausstellung.
Sigrún Ólafsdóttir hat bereits im Jahr 2000 eine Skulptur geschaffen, in der Gummilatex eine Rolle spielt, wenn auch eine kleine. Diese Arbeit gehört nicht direkt zu einer Arbeitsgruppe. Unten in dieser Konstruktion befindet sich zwar eine Stahlkalotte, wie bei der Gruppe der »Stapelungen«, die den »Hahn«, so wie der Titel lautet, in einer bestimmen Position hält. Ansonsten ist sein Holzgerippe ganz anders, nämlich wie ein langgezogener Kürbis schräg nach oben gerichtet, und oben hat die Künstlerin sozusagen einen sehr frühen »Gummitwist« drapiert.
Sie werden feststellen, dass der in dieser Ausstellung überaus präsente »Luzifer« ebenfalls aussieht wie ein langgezogener Kürbis. Der »Luzifer« ist die instinktive, intuitive und urweltliche Seite des Hahnes. Ein Bauch, eine Frucht, eine explosive Masse, pochend vor Energie. Es ist eine Form die fast aus ihren Nähten zu platzen scheint. Auf den ersten Blick massiv und fest, aber trotzdem beweglich, also veränderlich. Hier geht es immer noch um Gleichgewicht, um das männliche und weibliche Prinzip, das ewige Ausloten der Mitte. Die körperliche Energie dieser Arbeit dehnt sich in den Raum aus und setzt sich auf unsere Netzhaut fest. Mit diesem Paukenschlag verändert Sigrún Ólafsdóttir die Selbstverständlichkeit der Bildhauerkunst der Gegenwart. Die Verfremdung und die Irritation, die unmittelbare Wirkung, die auch ohne intellektuelle Auseinandersetzung unter die Haut geht, die Haptik und der Ekel, der Spaß und die Ehrfurcht, das Göttliche und das Abgöttliche, sie kommen ohne Umwege in unserem Hirn an. Die Geschlechtlichkeit des »Luzifers« aber auch von den drei Madonnen überschreitet nie die Grenze ins Pornografische, weil nichts explizit dargestellt wird, sondern sich diese Wirkung vielmehr im suggestiven Bereich manifestiert.
Das also, liebende Anwesende, ist aus dem eiförmigen Schiffchen geworden.
Das Leben, die natürliche Ursprünglichkeit, kann man nur bedingt kontrollieren, und dafür gibt es gesellschaftliche Regel. Wenn diese Regel überhand nehmen, geht der Kontakt mit dem Ursprung, mit der Quelle, verloren und es bleibt nur eine gekünstelte Welt, ohne Kraft. Sigrún Ólafsdóttir wird, anlässlich einer Ausstellungseröffnung, in einem Zeitungsartikel zitiert. Sie sagt: »Ich bin bewegt von dem, was sich um mich herum bewegt. Etwas anhalten zu wollen, wäre die Evolution anhalten zu wollen.« Dem Zitat aus dem Jahr 2011 möchte ich hinzufügen: Die Künstlerin wird ebenfalls bewegt von dem, was sich IN IHR bewegt. Ernest Uthemann, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Saarland Museums, der damals die Laudatio hielt, sagte: »Alle ihre künstlerischen Ausdrucksformen – seien es die Objekte oder ihre großformatigen Tuschezeichnungen – »leben« in einer Beziehung – sind Geschwister, die sich nebeneinander entwickeln«. Ende Zitat. So ist es.