Peter und Luise Hager-Preis 2024 - OBSESSIV

Fanny Benjes, Bertille Giro, Marie Luise Götze, Nils Elias Kammer, Mirco Kanthak, Suyoung Kim, Anna Müller, Sarah Niecke, Anastasia Pantazi, Laura Weisbrodt

7. März 2024 – 5. April 2024

Eröffnung

7. März 2024 - 19:00 Uhr

Einführung

Prof. Dr. Matthias Winzen, Hochschule der Bildenden Künste, Saarbrücken

English version below

Immer erst bis zwanzig zählen, bevor man die Haustür aufschließt, Müll horten mit der Angst, aus Versehen etwas Wertvolles wegzuwerfen, alle Darstellungen mit einer Eule sammeln, an der Haut der Finger ziehen, weil kleine Hautfetzen das Aussehen stören – Obsessionen und Zwänge haben viele Gesichter, jede und jeder kennt sie in der ein oder anderen Form aus dem alltäglichen Leben.

Vor allem in der Kunst werden immer wieder Parallelen gezogen zwischen künstlerischer Kreativität und obsessivem Handeln. Künstlerisches Arbeiten zeichnet sich durch die intensive Beschäftigung mit einem Thema, einem Objekt aus, die sich bis zur Besessenheit durch das Objekt oder die Idee steigern kann. Darin liegt die Nähe zu den verwandten Phänomenen wie Tick oder Zwang. Das Objekt übernimmt das Handeln „ Nicht ich male, das Bild malt sich von selbst“, ist eine häufige Äußerung von Maler*innen. Zum Mythos des Künstler*innen-Seins gehört allerdings auch die Annahme, dass nur die obsessive Beschäftigung mit Objekten, Themen, Ideen „wahre“, authentische Kunst hervorbringen kann.

Für die Finalist*innen des diesjährigen Peter und Luise Hager – Preises war das Thema „obsessiv“ Impulsgeber für eine spannende Auseinandersetzung mit ganz unterschiedlichen Bewältigungsphantasien: der Lust am Sammeln, Fetischisierung , Perfektionismus, magischem Denken, aggressiven Impulsen, zwanghaften Ordnungssystemen, klaustrophobischen Situationen.

Fanny Benjes (1. Preis) sammelt seit sie fünf Jahre alt ist Kronkorken. Dabei darf jeder Kronkorkenaufdruck nur einmal vorkommen. In ihrer zweiteiligen Arbeit „drauf und drunter“ hat sie eine überzeugende anschauliche Form für die große Menge an Objekten aber auch für die viele Zeit gefunden, die obsessives Sammeln mit sich bringt: sortiert nach farblichen Abstufungen wurden alle Kronkorken fotografiert, die Fotos dann in einem Buch gesammelt. Wie in einem Daumenkino führt das Buch als Zeitspeicher die Konsequenz über die lange Zeit des Sammelns vor Augen. Die Vorstellung von der schieren Menge an Objekten kann man sich erlaufen. Fast fünf Meter weit läuft man an einer im Raum gehängten horizontalen Leiste entlang, die die exakt sortierten Kronkorken trägt.

Sarah Nieckes (2. Preis) Video-Installation „Feed the Feed“ , die Aufnahmen aus dem Inneren einer Milchsaugepumpe zeigt, erinnert uns an unsere Nähe zu Tieren und Maschinen. Der Mensch ist ein Säugetier, das Video zeigt uns als Milch- und Mundmaschine. Wie die Milch saugen wir gierig jedes neue Bild auf Instagram auf und füttern selbst wiederum die große Datenmaschine Internet damit. Im weichen Sessel vor dem Video versunken liefern wir uns fasziniert der Bildproduktionsmaschine aus. Die Bilder lassen uns je nach Obsession dem Fetisch weibliche Brust ganz nah kommen oder versetzen uns in die Position des Babys, das die lebensnotwendige Milch erhält und erinnern uns damit an eine Abhängigkeit, in der wir alle einmal waren.

In Laura Weisbrodts (3. Preis) Kopf sitzt ein General. Er befiehlt, protestiert, macht Vorschriften. Er ist eine zur Stimme gewordenen Figur, die für den ständigen obsessiven Drang nach Perfektionismus steht. Und nur für die Künstlerin hörbar. Während ihrer Performance werden die Vehemenz der Generals-Befehle für uns sichtbar. Auf einer 40 m langen weißen Papierrolle notiert Laura Weißbrodt mit weißem Stift ihren nicht enden wollenden Gedankenfluss. Das Schreiben wird zum Widerstand gegen die Vereinnahmung durch die Gedanken, es ist ein Versuch der Bewältigung: ordnen, kontrollieren, notieren…

Bertille Giros „Wiegenlied für einen rastlosen Raum“ hat seinen Text verloren. Der wiederholte Gesang, der zunächst ruhig zu sein scheint, wird zu einer Art Stöhnen und kehrt zu der Angst zurück, der er entfliehen wollte. Auch von den Eindrücken der Stadt bleiben nur Fragmente, ein vertikaler Riss, der von einer subjektiven Erinnerung an die durchquerten Räume erzählt.

Obsession in ihrer Arbeit „Panzerstop“, versteht Marie Luise Götze als ein exzessives, einnehmendes, nicht ablassendes und räuberisches Eingreifen in menschliche und mehr-als-menschliche Lebensbereiche, als ein auswegloses Verharren in toxischen, destruktiven Verhältnissen, trotz besseres Wissens.

Verfolgt eine Obsession ein Ziel oder findet man sich immer und immer wieder am Anfang, mit der Illusion eines Ziels, das es zu erreichen gibt? Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, hat sich Nils Elias Kammer für seine Arbeit „müssen“ in einen Raum begeben, in dem sich außer einem Stuhl und einer Kamera nichts befand. Die Kamera durfte er während dieser Zeit nicht berühren. Keine Ablenkungen, kein Essen, kein Trinken, keine Toilettengänge, keine Zeitangaben, kein Sonnenlicht, keine äußeren Einflüsse. Nur eine unverschlossene Tür ermöglichte es ihm jederzeit zu gehen. Nur er allein mit einem Gedanken, wobei der konkrete Inhalt des Gedankens keine Rolle spielte

In seiner Videoperformance „Ich hatte nie die Absicht eine Mauer zu errichten“ stellt Mirco Kanthak zwar eine Art von Mauer her, diese war aber von ihm nie als etwas Dauerhaftes gedacht worden. Er entzieht sein Tun objektiven Maßstäben und baut ausschließlich nach eigenen Bewertungen. Da Mirko Kanthak keine feste Vorstellung des Endprodukts hat und sich intuitiv von Stein zu Stein leiten lässt, kann ihn die Fertigstellung weder zufriedenstellen noch enttäuschen. So kann er ganz in der Tätigkeit aufgehen, da ihr einziger Anspruch der Selbstzweck ist. Die Befreiung von Sinn, der durch objektive oder subjektive Kategorien festgelegt wird, führt zu einer erfolgreichen Überwindung der obsessiven Suche nach einer sinnvollen Beschäftigung.

Für Suyoung Kim können Obsessionen eine Form wiederholter Handlungen sein, die aufgrund innerer Zwänge kaum vermieden werden können. Ihre Arbeit „36.864“ entsteht aus zahlreichen einzelnen Arbeitsansätzen, die zu festen Routinen und Regeln führen, der Wiederholung der Aktion selbst, sowie dem Wunsch, diese Regeln subtil umzusetzen. Die stetig und diskret wiederholten Handlungen und die dafür investierte Zeit manifestieren sich schließlich in den 36.864 Quadraten, die jetzt auf dem Papier freigelegt sind.

Anna Müllers Installation „Der Tod des Koschchei“ wurde von der Märchengeschichte „Koschchei, der Unsterbliche“ und von den „Nadelarbeiten“ der polnischen Künstlerin Teresa Tyszkiewicz inspiriert. Die Besonderheit von Koschtschei beruht darauf, dass er durch die Tatsache, dass er seine Seele außerhalb seines Körpers aufbewahrt, sehr schwer zu töten ist. Er ist verrückt nach der Idee des ewigen Lebens, deshalb versteckt er „seinen Tod“ in Gegenständen, um ihn zu schützen. Zum Beispiel kann sein Tod in einer Nadel verborgen sein, die in einem Ei versteckt ist, das Ei ist in einer Ente, die Ente ist in einem Hasen, der Hase ist in einer Truhe, die Truhe ist auf einer fernen Insel begraben oder angekettet. Der Protagonist Ivan Tsarevich sucht und zerstört die Nadel mit der Hilfe von magischen Tierwesen.

Anastasia Pantazi sagt zu ihrer Arbeit „Dermatillomania“: „Es passiert ständig, sei es im Zug, mit Freunden oder wenn ich alleine zu Hause bin. Ich kann nicht aufhören und verstehe nicht, warum ich das tue. Meistens blute ich und es schmerzt, aber ich mache weiter. Meine Haut wird nie die Form bekommen, die ich mir wünsche. Und selbst wenn das passieren sollte, werde ich wahrscheinlich eine andere Stelle finden, wo mich die Haut stört. Dies ist etwas, das ich seit meiner Kindheit unbewusst tue. Mehrmals habe ich versucht, es mir abzugewöhnen, aber ich schaffe es nicht.“

Mit dem Peter und Luise Hager-Preis, den die Hochschule der Bildenden Künste Saar gemeinsam mit der Peter und Luise Hager-Stiftung vergibt, werden studentische Arbeiten und Positionen ausgezeichnet, die sich auf künstlerisch-gestalterisch anspruchsvolle Weise mit der sinnlichen Erfahrbarkeit und Vermittlung technischer, sozialer und kultureller Prozesse auseinandersetzen.

Die 2010 gegründete gemeinnützige Stiftung unterstützt Projekte zur Förderung von Erziehung und Bildung, Kunst und Kultur, Umweltschutz, Wissenschaft und Forschung und Sozialem. Die Peter und Luise Hager-Stiftung konzentriert sich dabei auf die Förderung nachhaltiger Projekte vor allem in Ländern und Regionen, in denen die Hager Group mit ihrem Angebot präsent ist.

Ausstellung in Kooperation mit der Peter und Luise Hager – Stiftung und der Galerie der HBKsaar, verantwortlich: Prof. Dr. Matthias Winzen. Kuratorin: Jennifer Trenkel. Es erscheint eine Publikation mit Abbildungen und Informationen zu den Arbeiten der Finalist*innen.

Always counting to 20 before unlocking the front door, hoarding rubbish for fear of accidentally throwing away something valuable, collecting all the pictures with an owl, picking at the skin on one’s fingers because little bits of skin spoil one’s appearance – obsessions and compulsions have many faces, everyone knows them in one form or another from everyday life.

Parallels are often drawn between artistic creativity and compulsive behaviour, especially in art. Artistic work is characterised by an intense preoccupation with a subject or object, which can escalate into an obsession with the object or idea. This is close to related phenomena such as tics or obsessions. The object takes over the action: „I don’t paint, the picture paints itself“ is a common statement made by painters. But the myth of being an artist also includes the assumption that only an obsessive preoccupation with objects, themes and ideas can produce ‚real‘, authentic art.

For the finalists of this year’s Peter and Luise Hager Prize, „obsessive“ provided the impetus for an exciting exploration of very different coping fantasies: the desire to collect, fetishism, perfectionism, magical thinking, aggressive impulses, obsessive systems of order, claustrophobic situations.

Fanny Benjes (1st prize) has been collecting bottle caps since she was five. Each cap imprint is only allowed to appear once. In her two-part work „drauf und drunter“ (on top and underneath), she has found a convincing visual form for the large number of objects, but also for the amount of time that obsessive collecting requires: all the bottle caps were photographed, sorted by colour gradation, and the photos were then collected in a book. Like a flip-book, the book serves as a memory of the time and shows the consequences of the long period of collecting. You can get an idea of the sheer quantity of objects. You walk almost five metres along a horizontal bar suspended in the room, supporting the meticulously sorted bottle caps.

Sarah Niecke’s video installation ‚Feed the Feed‘ (2nd prize), which shows footage from inside a milk pump, reminds us of our proximity to animals and machines. Humans are mammals, and the video shows us as milk and mouth machines. Like milk, we greedily soak up every new image on Instagram and in turn feed the big data machine that is the internet. Sinking into a soft chair in front of the video, we surrender to the image production machine with fascination. Depending on our obsession, the images bring us very close to the fetish of the female breast or put us in the position of the baby receiving the vital milk, reminding us of a dependency we were all once in.

There is a general in Laura Weisbrodt‘s head. He commands, protests, issues orders. He is a figure that has become a voice, symbolising the constant, compulsive need for perfectionism. And only the artist can hear it. During her performance, the vehemence of the generals‘ orders becomes visible to us. On a 40 metre long roll of white paper, Laura Weisbrodt writes down her never-ending stream of thoughts with a white pen. Writing becomes a resistance to being taken over by thoughts, it is an attempt to cope: to organise, to control, to note…

Bertille Giro‘s „Lullaby for a restless room“ has lost its lyrics. The repeated song, which at first seems calm, becomes a kind of groan and returns to the anxiety it was trying to escape. Only fragments of the impressions of the city remain, a vertical fissure that tells of a subjective memory of the spaces traversed.

In her work „Panzerstop“, Marie Luise Götze understands obsession as an excessive, engaging, relentless and predatory intervention in human and more than human spheres of life, as a hopeless persistence in toxic, destructive conditions, despite knowing better.

Does an obsession pursue a goal, or does it always find itself back at the beginning, with the illusion of a goal to be achieved? In order to get to the bottom of this question, Nils Elias Kammer went into a room for his work „must“ in which there was nothing but a chair and a camera. He was not allowed to touch the camera during this time. No distractions, no eating, no drinking, no going to the toilet, no time signals, no sunlight, no outside influences. Only an unlocked door allowed him to leave at any time. Just him, alone with a thought, the concrete content of which played no role.

In his video performance „I never intended to build a wall“, Mirco Kanthak builds a kind of wall, but he never intended it to be permanent. He removes his actions from objective standards and builds solely according to his own judgement. Because Mirko Kanthak has no fixed idea of the final product and lets himself be guided intuitively from stone to stone, the finished product can neither satisfy nor disappoint him. This allows him to immerse himself in his work, which is an end in itself. The liberation from meaning determined by objective or subjective categories leads to a successful overcoming of the obsessive search for a meaningful occupation.

For Suyoung Kim , obsessions can be a form of repetitive behaviour that can hardly be avoided due to inner compulsions. Her work ‚36,864‘ is the result of numerous individual approaches to work that lead to fixed routines and rules, the repetition of the action itself and the desire to implement these rules in a subtle way. The constantly and discreetly repeated actions and the time invested in them ultimately manifest themselves in the 36,864 squares now exposed on the paper.

Anna Müller’s installation„The Death of Koschchei“ was inspired by the fairy tale „Koschchei, the Immortal“ and the „needle works“ of the Polish artist Teresa Tyszkiewicz. Koshchei’s speciality is that he is very difficult to kill because he keeps his soul outside his body. He is crazy about the idea of eternal life, so he hides „his death“ in objects to protect it. For example, his death can be hidden in a needle in an egg, the egg in a duck, the duck in a rabbit, the rabbit in a chest, the chest buried or chained on a distant island. The protagonist, Ivan Tsarevich, searches for and destroys the needle with the help of magical animal creatures.

Anastasia Pantazi says of her work „Dermatillomania“: „It happens all the time, whether it’s on the train, with friends or when I’m alone at home. I can’t stop and I don’t understand why I do it. Most of the time I bleed and it hurts, but I go on. My skin will never be the way I want it to be. And even if it does, I will probably find another place where it bothers me. I’ve been doing this unconsciously since I was a child. I’ve tried to break the habit many times, but I can’t.

The Peter and Luise Hager Prize, which is awarded jointly by the Hochschule für Bildende Künste Saar and the Peter and Luise Hager Foundation, honours student works and positions that deal with the sensory experience and communication of technical, social and cultural processes in an artistically and creatively sophisticated way.

Established in 2010, the non-profit foundation supports projects that promote education and training, art and culture, environmental protection, science and research, and social issues. The Peter and Luise Hager Foundation focuses on promoting sustainable projects, particularly in countries and regions where the Hager Group is present.